Von Dr Michael Flower Bearbeitet von Professor Ed Wild Übersetzt von Rebecca

Wenn die Medien von einem “Wundermittel” berichten, das “alle neurodegenerativen Hirnerkrankungen, inklusive Demenz aufhalten” könne, dann scheint das zu schön, um wahr zu sein. Denn es ist zu schön, um wahr zu sein. Die Wahrheit hinter der Überschrift ist, dass Wissenschaftler tausende bereits zugelassene Medikamente an Würmern und einige auch erfolgreich an Mäusen mit zwei seltenen Formen von Demenz getestet haben. Während die Wissenschaftler dadurch zwei neue Spuren verfolgen können, beweisen die Erkenntnisse noch nichts in Bezug auf die Anwendung der jeweiligen Medikamente bei Patienten mit neurodegenerativen Krankheiten. Zudem haben sie wirklich überhaupt nichts mit der Huntington-Krankheit zu tun.

Neurodegeneration erforschen

Diese Studien wurden von Prof. Giovanna Malluci an der University of Leicester geleitet. Ihre Gruppe bedient sich mehrerer Zell- und Tiermodelle, um neurodegenerative Krankheiten zu erforschen. Hinter diesem Begriff verbergen sich viele Erkrankungen, die dazu führen, dass Neuronen im Gehirn zu früh absterben. Die Huntington-Krankheit ist eine davon, sowie auch Alzheimer, Parkinson und seltenere Erkrankungen, wie beispielsweise Prionerkrankungen, zu denen auch der so genannte “Rinderwahn” zählt. Bei solchen Krankheiten werden in Gehirnzellen unter dem Mikroskop oft verklumpte Proteine beobachtet. Wissenschaftler sprechen von Aggregaten.

Mallucci's Gruppe identifizierte zwei Top-Kandidaten, nachdem über tausend Medikamente in Würmern namens C. elegans getestet wurden.
Mallucci’s Gruppe identifizierte zwei Top-Kandidaten, nachdem über tausend Medikamente in Würmern namens C. elegans getestet wurden.

Wie Zellen mit beschädigten Proteinen umgehen

Proteine sind die Bausteine und das Maschinenwerk unserer Zellen. Proteine bestehen anfangs aus einer langen Kette von Molekülen, die dann in eine komplexe Form gefaltet wird. Diese Schritte sind unabkömmlich, damit das Protein seine Funktion erfüllen kann.

Viele Proteine werden im Tohuwabohu einer beschäftigten Zelle beschädigt. Solche beschädigten Proteine werden dann markiert und zum Wertstoffhof der Zelle, genannt Proteasom, transportiert, wo sie abgebaut werden, sodass ihre Bestandteile für den Aufbau neuer Proteine verwendet werden können.

Unterschiedliche Proteine bilden solche Verklumpungen in unterschiedlichen neurodegenerativen Erkrankungen. Bei der Huntington-Krankheit ist es das Protein Huntingtin, bei Alzheimer sind es Amyloid und Tau. Bei Parkinson ist es α-Synuclein - und so weiter.

Überraschenderweise wissen wir immer noch nicht, ob die Verklumpung der Proteine die Neuronen beschädigt oder sie vor Beschädigung schützt, indem giftige Proteine von ihnen ferngehalten werden. Das kann sogar davon abhängen, um welche Krankheit es sich handelt, welches Stadium und welches Protein betrachtet wird.

Wenn Proteine verkleben ist das eine Stresssituation für die Zellen. Daher haben sie Möglichkeiten entwickelt damit umzugehen. Einer dieser Schutzmechanismen nennt sich Unfolded Protein Response (UPR, dt. ungefaltete Proteinantwort). Wenn eine Zelle bemerkt, dass Proteine sich verkleben, wird die Bremse für die Herstellung neuer Proteine gezogen und so Zeit für den Abbau der Aggregate geschaffen. Ein Sensor namens PERK ist für diese Bremswirkung verantwortlich.

Dieser Schutzmechanismus ist unabdingbar für die Zellen, um mit Verklumpungen beschädigter Proteine umzugehen.

Jedoch legen Erkenntnisse aus Tierversuchen zu einigen neurodegenerativen Krankheiten nahe, dass die UPR zu aktiv bis zu einem zu späten Zeitpunkt bleibt. Während der ganzen Zeit stellt das Neuron keine neuen Proteine her, sodass es keinen Nachschub für sein lebensnotwendiges Maschinenwerk erhält.

Mallucci vermutet, dass dadurch zuletzt Neuronen abgetötet werden und dass es daher nützlich sein könnte, die UPR zu reduzieren.

Aber es ist wichtig, festzustellen, dass wir immer noch sehr wenig über die unverklebte-Protein-Reaktion wissen. Zum Beispiel gibt es einige Krankheiten, bei denen sie in Wirklichkeit von Vorteil ist und sie komplett auszuschalten ist definitiv schlecht für Neuronen. Und schon ist es komplexer als die Überschrift andeutet!

Medikamente, die die UPR eindämmen

Die Erfahrung zeigt uns, dass ein Erfolg bei Mäusen noch lange keine sicheren Rückschlüsse auf den Menschen ziehen lässt.

Im Jahr 2013 verabreichte Mallucci’s Gruppe basierend auf dieser Idee Labormäusen mit zwei neurodegenerativen Krankheiten - Prionkrankheit und Fronto-Temporal Demenz - ein Medikament namens GSK2606414. GSK2606414 blockiert den PERK Sensor – der normalerweise die Proteinherstellung bremsen würde.

Diese Behandlung hielt die Proteinsynthese bei den Mäusen am Laufen, ließ ihre Neuronen überleben und verbesserte Symptome und Lebenserwartung.

Leider, auch wenn es den Neuronen besser ging, ging es den anderen Organen schlechter. GSK2606414 war giftig für die Bauchspeicheldrüse, was dazu führte, dass die Mäuse an Gewicht verloren und gefährlich hohe Zuckerwerte aufwiesen, ähnlich wie bei Diabetis.

Mit Würmern nach Medikamenten angeln

In der Studie, die kürzlich für Schlagzeilen sorgte, ging Mallucci’s Team auf die Suche nach Medikamenten, die die UPR in Neuronen reduzieren ohne Organe zu vergiften.

Das Meer, in dem sie angelten, bestand aus tausenden Wirkstoffen, von denen viele bereits bei anderen Erkrankungen für die Anwendung beim Menschen zugelassen sind.

Die Gruppe verwandte eine Technnik namens High-Troughput Screening, bei der in kurzer Zeit viele Medikamente hinsichtlich eines bestimmten Effektes getestet werden.

Ihr Köder war ein kleiner Wurm namens C. elegans. Diese Würmer hören auf zu wachsen, wenn die UPR aktiviert wird. Daher testete Mallucci’s Gruppe, ob irgendeines der Medikamente dazu führen würde, dass die Würmer wieder weiterwachsen - und sie haben zwanzig Medikamente gefunden, die das taten.

Im nächsten Schritt war zu überprüfen, ob diese Medikamente ihre Auswirkungen auf die Würmer aufgrund des gewünschten Mechanismus hatten, nämlich indem sie die Aktivität des PERK Sensors herabsetzen. Im Labor züchteten sie Zellen, die bei der Aktivierung von PERK leuchten. Fünf der zwanzig Medikamente konnten dieses Leuchten reduzieren, woraus abgeleitet wurde, dass sie die Aktivität von PERK verringern.

Drei wurden für weitere Versuche verworfen, entweder aufgrund von Nebenwirkungen oder weil sie nicht bis ins Gehirn vordringen können, sodass nur zwei mögliche Wirkstoffe übrig blieben: Trazodon und Dibenzoylomethan (“DBM” unter Kennern).

Das dynamische Duo

Die zwei Top-Kandidaten wurden in Maus-Modellen seltener neurodegenerativer Krankheiten - nicht der Huntington-Krankheit - getestet
Die zwei Top-Kandidaten wurden in Maus-Modellen seltener neurodegenerativer Krankheiten - nicht der Huntington-Krankheit - getestet

Trazodon ist für die Behandlung von Depressionen und Angststörungen zugelassen, wurde aber niemals auf die Verlangsamung von neurodegenerativen Erkrankungen bei Menschen untersucht. Seine stärkste Nebenwirkung ist Schläfrigkeit. Das kann bei Schlaflosigkeit hilfreich sein, macht es aber weniger interessant bei Depressionen, da Betroffene sich hier meist ohnehin schon energielos fühlen. Weiterhin kann es Unregelmäßigkeiten beim Herzrhythmus und niedrigen Blutdruck beim Aufstehen bewirken.

DBM ist eine Substanz, die aus Süßholz gewonnen wird und potentiell gegen Krebs wirken könnte. Aktuell ist nicht verstanden, wie es genau funktioniert. Im Gegensatz zu Trazodon ist DBM noch nicht für die Behandlung von Menschen zugelassen.

Versuche an Mäusen

Beide Medikamente wurden im Mausmodell zweier Neurodegenerativer Erkrankungen - Prionkrankheit und frontotemporale Demenz - getestet. Die gleiche Art von Mäusen, bei denen GSK2606414 in 2013 gut aussah. Die Behandelten Mäuse zeigten verbesserte Symptome und lebten länger als unbehandelte Mäuse.

Dann handelt es sich also um Wundermedikamente, oder?

Da wir die Studien im Detail erklärt haben, können Sie hoffentlich verstehen, warum wir denken, dass es unpassend ist, wenn über Nachrichten oder in der Wissenschaftsgemeinschaft diese Medikamente als “Wundermittel” gelobt werden.

Bis jetzt sind die Studien nicht über das Tiermodell hinausgekommen - Würmer und Mäuse. Diese wurden genetisch so behandelt, dass sie zwei seltene Formen der Demenz zeigten.

Die Erfahrung zeigt uns, dass ein Erfolg bei Mäusen noch lange keine sicheren Rückschlüsse auf den Menschen ziehen lässt.

Tatsächlich hat bisher noch kein Medikament, dass im Maus-Modell neurodegenerative Erkrankungen verlangsamte, auch in erwachsenen, menschlichen Patienten gewirkt.

Auch wenn Trazodon bereits die Hürden überwunden hat, um gegen Depressionen zugelassen zu werden, heißt dass noch nicht notwendigerweise, dass es sicher und effektiv am Patienten wirkt - insbesondere dann wenn noch kein Mausmodell hinsichtlich der Wirksamkeit getestet wurde, so wie es bei der Huntington-Krankheit der Fall ist.

Medikamente, die bei Mäusen wirken können dann weiterhin bei Menschen aus vielen Gründen nicht wirken. Die UPR verhält sich im menschlichen Gehirn vielleicht ganz anders oder wird durch die unterschiedlichen Formen der Neurodegeneration auf andere Weise verändert als bei Mäusen.

Auch wenn Trazodon bereits die Hürden überwunden hat, um gegen Depressionen zugelassen zu werden, heißt dass noch nicht notwendigerweise, dass es sicher und effektiv bei Patienten mit der Huntington-Krankheit wirkt.

An dieser Stelle ist unser Rat wie immer, über die Forschung mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Skepsis zu lesen. Viele Male zuvor waren wir bereits in einer ähnlichen Situation und dann, wenn die Versuche vergrößert und wiederholt wurden, haben sich versprechende Ergebnisse oft nicht bestätigen lassen. Das Gute ist, dass wir heute insgesamt schon besser darin sind, Fehlschläge vorherzusehen und sie vermeiden können.

Genug jetzt… KÖNNTEN diese Wirkstoffe gegen die Huntington-Krankheit helfen?

Lassen Sie uns für einen Moment inne halten, unsere Zweifel in Neugier verwandeln und darüber nachdenken, wie gezeigt werden könnte, dass Tradozon oder DBM gegen die Huntington-Krankheit helfen.

Der erste Schritt wäre, sie in einem genetischen Huntington-Maus-Modell zu testen. Es gibt sehr viele genetisch mutierte Mäuse. Da jeder Fall der Huntington-Krankeit aber von der gleichen genetischen Mutation ausgelöst wird, könnte es sein, dass Huntington-Mäuse ganz besonders gut geeignet sind, um herauszufinden, ob die Medikamente bei menschlichen Patienten wirken könnten. Bis heute aber, haben auch Huntington-Mäuse die oben beschriebene Misserfolgsrate.

Wenn die Medikamente bei Huntington-Mäusen positive Ergebnisse hervorrufen, wäre es gut, sie anschließend auch in einem anderen Maus-Modell zu testen, um festzustellen, ob die Verbesserung wirklich spürbar ist und unter den verschiedenen Modellen konsitent. Außerdem sollte in den Gehirnen der Mäuse nachgewiesen werden, dass das Medikament das mit den Zellen tut, was von ihm erwartet wird.

Der letzte Schritt wäre dann die Weiterführung hin zu klinischen Studien am Menschen. Es ist wahrscheinlich, dass die Gesundheitsbehörden bei Tradozon wenige Bedenken haben, da es bereits recht häufig eingesetzt wird. Trotzdem müsste die Sicherheit der Anwendung bei Menschen mit der Huntington-Krankheit erst nachgewiesen werden, bevor dann in einer größeren klinischen Studie die Wirksamkeit überprüft würde. DBM dagegen müsste vollständig und noch strenger geprüft werden.

Es ist möglich, dass irgendwo bereits eine Gruppe von Wissenschaftlern die Medikamente an Mäusen testet oder dieses Vorhaben gerade plant. Forschung am Mausmodell ist aber auch teuer und dauert lange, sodass gleichzeitig weiterhin auch viele andere Möglichkeiten verfolgt werden.

Glücklicherweise ist die Huntington Forschungsgemeinschaft gut vernetzt und platziert, um die gesamte Forschungslandschaft zu überblicken, nicht nur die griffigen Schlagzeilen. Das hilft zu entscheiden, welche Medikamente wirklich getestet werden sollen und wie.

Wenn wir weitere Neuigkeiten über Fortschritte zu diesem Thema erfahren, werden wir Ihnen das auf jeden Fall mitteilen. Jetzt erst einmal, in einem Zeitalter von Falschmeldungen, können wir echte Hoffnung daraus ziehen, auf die Zusammenhänge hinter den Schlagzeilen zu schauen und zusammen zu erforschen, welche Fortschritte tatsächlich im Kampf gegen Demenz und Neurodegeneration gemacht werden.

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte offenzulegen. Weitere Informationen zu unserer Offenlegungsrichtlinie finden Sie in unseren FAQ ...



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