
Wenn Aussetzer gut sind: genetischer Schluckauf, der gegen die Huntington-Krankheit schĂŒtzt
Verschiedene Forschergruppen identifizieren kleine Unterbrechungen im Bereich der CAG-Wiederholungen des Huntington-Gens. Diese haben zwar keinen direkten Einfluss auf das Huntingtin, aber auf das Ausbruchsalter. Was verbirgt sich dahinter?

Verschiedene neue Studien haben etwas herausgearbeitet, was die wichtigste neue Information im Bereich der Genetik der Huntington-Krankheit seit der Entdeckung des Huntington-Gens im Jahr 1993 sein könnte. Wenigstens zwei internationale Forschergruppen berichten nun gleichzeitig, dass winzige genetische Abfolgenunterbrechungen im Huntington-Gen einen groĂen Einfluss auf die Huntington-Symptome haben.
Was ist CAG und warum befassen wir uns damit?
Die Huntington-Krankheit wird von einer einzigen Mutation in einem einzigen Gen ausgelöst. Wir nennen es das Huntington-Gen oder kurz HTT. Jeder Mensch hat zwei Kopien davon, je eine wurde von der Mutter, die andere vom Vater geerbt.

Jedes Gen beinhaltet Anleitungen zur Herstellung von Proteinen. Die Sprache, in der die Gene geschrieben sind, ist die DNA, die abgekĂŒrzt aus vier chemischen Buchstaben besteht: A, T, G und C.
So ziemlich am Anfang des Huntington-Gens befindet sich ein Abschnitt mit mehrfacher Wiederholung der Buchstabenfolge „C-A-G“. Bei allen Menschen tritt diese Wiederholung auf, auch wenn sie nicht von der Huntington-Krankheit betroffen sind. Die durchschnittliche Anzahl an Wiederholungen betrĂ€gt 17.
Die CAG-Anzahl ist bedeutend fĂŒr den Ausbruch der Huntington-Krankheit
Bei jeder Person, die im Laufe ihres Lebens von der Huntington-Krankheit betroffen sein wird, ist die Anzahl der CAG-Wiederholungen besonders hoch. Im Durchschnitt haben Betroffene 44 Wiederholungen. Allgemein gilt, dass je mehr CAGs im Huntington-Gen vorhanden sind, desto frĂŒher werden Symptome der Krankheit sichtbar sein, auch wenn es von Person zu Person einen groĂen Streubereich gibt.
Sehr deutlich wird der Zusammenhang bei 65 Wiederholungen oder mehr: diese fĂŒhren zu einem Ausbruch im Kindes- oder jugendlichen Alter, man spricht auch von der juvenilen Form der Huntington-Krankheit.
Erst kĂŒrzlich, haben zwei voneinander unabhĂ€ngige Forschergruppen eine erstaunliche Entdeckung zu diesen CAG-Repeats gemacht. Bevor wir darauf genauer eingehen, mĂŒssen wir die Biologie noch etwas besser verstehen.
CAGs und Glutamin
Das erste, was man verstehen muss, ist, dass die Anleitungen zum EiweiĂbau der DNA auf sehr spezifische Weise funktionieren. WĂ€hrend die DNA aus den beschriebenen vier Buchstaben aufgebaut ist, setzen sich EiweiĂe aus aneinandergehĂ€ngten Bausteinen namens AminosĂ€uren zusammen. Davon gibt es zwanzig verschiedene. Vergleichbar mit zwanzig unterschiedlich geformten Perlen, die in beliebiger Reihenfolge auf eien Perlenkette gezogen weren können.
Um von den vier Buchstaben des genetischen Alphabets auf die zwanzig Amino-SĂ€uren zu kommen, mĂŒssen verschiedene Prozesse ablaufen. Die Zellen lesen die DNA in Gruppen von je drei Buchstaben aus. Zum Beispiel hat der Buchstabe C alleine daher fĂŒr die Zellen keine Bedeutung, genauso wenig wie die Kombination CA. Aber die Abfolge CAG kann verstanden werden und bedeutet, dass der Amino-SĂ€ure-Baustein Glutamin zu dem zu bauenden EiweiĂ hinzugefĂŒgt werden muss.
Daher gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Anzahl von CAG-Wiederholungen, die ein Mensch in seinem Huntington-Gen aufweist und der Anzahl an Glutamin-Bausteinen im resultierenden Protein, dem Huntingtin. Jemand, der eine CAG-Anzahl von 42 von einem Huntington-Betroffenen Elternteil geerbt hat, stellt in seinem Körper Huntingtin mit 42 aufeinanderfolgenden Glutaminen her. Je mehr CAGs, desto mehr Glutamin, desto frĂŒher ist mit dem Ausbruch der Krankheit zu rechnen. Warum letzteres der Fall ist, weiĂ man noch nicht genau, aber der Zusammenhang wurde bereits frĂŒh aus wissenschaftlichen Studien deutlich.
So weit, so gut. Die DNA wird immer in 3er-Blöcken ausgelesen, nach deren Anleitung Proteinbausteine erzeugt werden. Jeder CAG-Block bewirkt die Erzeugung eines Glutamin-Bausteins. Und je mehr Glutamin vorhanden ist, desto schlechter!
Aber halt, es wird noch abgefahrener!
Dass die DNA immer in 3er-Blöcken ausgelesen wird, hat eine Haken: es gibt mehr 3er-Block-Kombinationen als wir Menschen brauchen. Insgesamt ergeben sich nÀmlich 64 verschiedene Kombinationen, aber es gibt nur zwanzig AminosÀuren.

Einige der Buchstabencodes resultieren daher in der gleichen AminosĂ€ure. FĂŒr Glutamin ist die CAG-Kombination die wichtigste, aber CAA bewirkt ebenso die Erzeugung von Glutamin als weiteren EiweiĂbaustein.
Detaillierte Untersuchungen haben gezeigt, dass bei der groĂen Mehrheit der Menschen, CAA und CAG beide nah beieinander im Huntington-Gen auftreten. Was wir als den „CAG-Arm“ des Huntington-Gens bezeichnen, enthĂ€lt meistens eine Unterbrechung durch einen einzelnen CAA-Block. Da bekannt ist, dass sowohl CAA als auch CAG die Erzeugung von Glutamin hervorrufen, dachte man lange, dass das keinen groĂen Unterschied macht.
Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Können Sie die CAA-Unterbrechung im folgenden CAG-Arm finden?
CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAG-CAA-CAG.
Haben Sie es gefunden? Es ist der vorletzte Block.
Genetische Testung der CAG-LĂ€nge
Wenn Huntington-Familienmitglieder sich genetisch testen lassen, um herauszufinden, ob sie die genetische Veranlagung fĂŒr die Huntington-Krankheit haben oder nicht, wird im Labor die CAG-LĂ€nge (Anzahl der CAG-Wiederholungen) gemessen. Dieser Test ist allerdings nicht in der Lage, die CAA-Unterbrechung zu detektieren.
Im Test wird die genetische Information nicht direkt ausgelesen. Stattdessen wird die physische LÀnge des Bereiches der DNA, die den CAG-Arm enthÀlt exakt vermessen. Er verrÀt uns damit die Anzahl der vorhandenen 3er-Blöcke, aber eben nicht, ob auch ein CAA-Block darunter ist.
Bis jetzt dachte man, das wÀre nicht ausschlaggebend, aber neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass man vielleicht doch genauer hinschauen sollte.
Neue Erkenntnisse – GEM-HD
Erst kĂŒrzlich haben verschiedene internationale Gruppen etwas sehr Ăberraschendes festgestellt. Zuerst war es das GEM-HD-Konsortium – wir berichteten in einem frĂŒheren HDBuzz-Artikel – eine Gruppe von Forschern, die verstehen will, wie sich genetische Abweichung verschiedener Huntington-Patienten auf deren Ausbruch und Fortschreiten der Krankheitssymptome auswirken.
Die neue Veröffentlichung des GEM-HD-Konsortiums beschreibt eine Analyse von ĂŒber 9.000 Huntington-Patienten, die an der Enroll-HD-Studie teilgenommen haben. Die Analyse zeigte, dass der gewöhnlich vorhandene CAA-Block kurz vor dem Ende des CAG-Arms ab und zu fehlte. Das war bei etwa einer von 300 Personen der Fall.
Personen, bei denen die CAA-Unterbrechung fehlte, die also „reine“ CAG-Sequenzen auf ihrem Huntington-Gen zeigten, wiesen eine deutlich frĂŒheren Ausbruch von Huntington-Symptomen auf, als die Statistik vorhersagen wĂŒrde.

Gleichzeitig entdeckten die Forscher eine andere seltene Variation, die den gegenteiligen Effekt hervorzurufen schien, also den Ausbruch der Symptome aufschob. Diese Variation zeigte etwa eine von 100 Personen. Hier wurden zwei CAA-Unterbrechungen auf dem CAG-Arm gefunden.
Die Auswirkungen dieser genetischen Varianten sind faszinierend und gleichzeitig ĂŒberraschend. Da sowohl eine schlechtere als auch eine bessere Version gefunden wurde, ist davon auszugehen, dass die Auswirkung tatsĂ€chlich real ist. Es wĂŒrde also bedeuten, dass die breite Streuung der unterschiedlichen Alter in denen die Krankheit ausbricht, nicht nur mit der CAG-LĂ€nge sondern auch mit den CAG-Unterbrechungen zusammenhĂ€ngt.
Das seltsame daran ist, dass wir ja wissen, dass die Zellen sowohl auf Grundlage von CAG- als auch von CAA-Blöcken Glutamin herstellen. Wenn also – wie wir annehmen – das hergestellte EiweiĂ giftig fĂŒr die Zellen ist, wie kann es sein, dass es einen Unterschied macht, ob CAA oder CAG fĂŒr die Erzeugung von Glutamin verantwortlich sind? Darauf möchten wir spĂ€ter noch genauer eingehen.
Wie jede wissenschaftliche Erkenntnis, muss auch diese durch weitere Studien wiederholt und validiert werden. Wenn sich aber herausstellen sollte, dass alles korrekt ist, hat das eine bedeutende Auswirkung auf unser VerstÀndnis der Huntington-Krankheit.
Neue Erkenntnisse – UBC
GlĂŒcklicherweise musste in diesem Fall gar nicht lange auf eine BestĂ€tigung gewartet werden, denn eine weitere Studie von Michael Hayden an der Universtity of British Columbia (UBC) wurde gleichzeitig mit der GEM-HD-Studie veröffentlicht. Es war eine vollstĂ€ndig unabhĂ€ngige Untersuchung, die Hayden’s Labor durchfĂŒhrte, dem eine groĂe Datenbank von DNA-Proben aus Huntington-Familien zur VerfĂŒgung steht.
Die Wissenschaftler an der UBC fanden 16 Beispielpersonen, bei denen die der CAA-Block nicht vorhanden war. Diese Menschen entwickelten um einiges frĂŒher Krankheitssymptome als erwartet – damit sind Jahre oder Jahrzehnte verglichen mit der Erwartung aufgrund der absoluten CAG-LĂ€nge gemeint.
Als nÀchstes untersuchten sie wie hÀufig das Fehlen der Unterbrechung innerhalb einer Population von Huntington-GenmutationstrÀgern war.
Einige Personen, die eine CAG-LĂ€nge zwischen 36 und 38 geerbt hatten, litten unter der Huntington-Krankheit, wĂ€hrend andere bis ins hohe Alter ohne jegliche Symptome lebten. Haydens Datenbank von DNA-Informationen von Huntington-Familien beinhaltete 45 Personen, die CAG-LĂ€ngen von 36, 37 oder 38 aufwiesen. 15 dieser Personen zeigten Symptome, die ĂŒbrigen nicht. Und auffĂ€lligerweise, bei diesen Betroffenen mit recht wenigen CAG-Wiederholungen und mit Huntington-Symptomen fehlten mehrheitlich die CAA Unterbrechungen.
Wenn wir uns erinnern, wissen wir, dass das Fehlen des CAA-Blocks insgesamt ziemlich selten ist. Die Tatsache also, dass so viele Menschen mit relativ niedriger CAG-Anzahl und Huntington-Symptomen den CAA-Block nicht hatten, ist ziemlich wahrscheinlich kein Zufall. Es legt sehr nahe, dass die fehlende CAA-Unterbrechung ein Ausbrechen der Krankheit beschleunigt.
Aber wie?
Das zwei renommierte Forschergruppen zur selben Zeit diese Ă€hnlichen Entdeckungen machen ist ziemlich bemerkenswert. Es zeigt, dass unser Bild von der Huntington-Krankheit etwas ĂŒberarbeitet werden muss.
Es steht fest, dass sowohl CAG als auch CAA die Zellen anweisen, Glutaminbausteine zum EiweiĂ hinzuzufĂŒgen. Die EiweiĂe sind also bei einer bestimmten LĂ€nge des CAG-Arms identisch, egal ob CAA vorhanden ist oder nicht.

Logischerweise muss dann die ErklĂ€rung der Auswirkung auf die Gesundheit der Patienten in der DNA liegen und nicht im EiweiĂ – und wahrscheinlich gibt es eine Beziehung zu der eigenartigen Tendenz des CAG-Arms, sich in manchen Körperzellen noch weiter zu verlĂ€ngern.
Es ist bekannt, dass nach dem Tod die Gehirne von Huntington-Patienten einige Zellen enthalten, in denen die CAG-LĂ€nge viel gröĂer ist als die CAG-LĂ€nge, die zuerst beim Bluttest derselben Patienten ermittelt wurde. Man weiĂ noch nicht genau, warum, aber Beobachtungen aus neueren genetischen Studien zeigen, dass es damit zusammenhĂ€ngen könnte, dass lange, sich wiederholende DNA-Abschnitte besonders schwierig zu reparieren sind, wenn sie beschĂ€digt werden.
Unsere DNA wird hĂ€ufig stark beansprucht, beispielsweise durch UV-Strahlung. Dadurch entstehen ab und zu kleine Risse oder BrĂŒche. In unseren Zellen gibt es eine ganze Maschinerie, die solche Verletzungen repariert, um schĂ€dliche VerĂ€nderungen an unseren Genen zu verhindern.
Es scheint, dass der lange CAG-Arm diese Maschinerie durcheinander bringt. Und manchmal werden wĂ€hrend der Reparatur noch weitere CAG-Wiederholungen hinzugefĂŒgt. Durch eine gröĂere CAG-LĂ€nge wird dann wieder mehr Glutamin hergestellt und damit Proteine, die noch schĂ€dlicher sind.
Es ist möglich, wenn auch noch nicht bewiesen, dass die Anwesenheit von CAA-Blöcken zwischen den CAGs es der Zelle erleichtert, die DNA besser zu reparieren. Vielleicht passiert das dadurch, dass die beiden DNA-StrÀnge, falls sie in der Mitte auseinanderbrechen, leichter wieder aneinander gelegt werden können oder dadurch, dass die Reparaturmaschinerie einen Angriffspunkt hat.
Wichtig zu beachten ist, dass die Anwesenheit von CAA nicht notwendigerweise erfassbar ist, wenn die CAG-LĂ€nge ĂŒber einen Bluttest bestimmt wird. Es mag Menschen geben mit einer CAG-Anzahl von 44 laut Bluttest, die Gehirnzellen mit viel gröĂeren CAG-LĂ€ngen haben. Andere dem demgleichen Wert beim Bluttest hĂ€tten vielleicht die gleiche CAG-LĂ€nge im Gehirn. Und diese Unterschiede von Patient zu Patient könnten durch die An- oder Abwesenheit der CAA-Unterbrechung ausgelöst werden.
Was bedeutet das fĂŒr Huntington-Familien?
Bis jetzt handelt es sich um eine wissenschaftliche Erkenntnis. Sie scheint ungewöhnlich solide zu sein, da zwei Forschergruppen unabhĂ€ngig voneinander darauf gestoĂen sind. TatsĂ€chlich haben wir schon von einer dritten Arbeitsgruppe gehört, die die Ergebnisse in einer weiteren Patientenkohorte reproduziert haben soll. Ihre Arbeit wurde bei einem Wissenschaftsjournal eingereicht und wird gerade von Experten durchgesehen.
Die Variationen in den Buchstabenblöcken, die die Wissenschaftler gefunden haben und die das Ausbruchsalter fĂŒr Huntington-Symptome beeinflussen, sind sehr selten. Nur eine sehr kleine Zahl von Huntington-Familienmitgliedern trĂ€gt sie in sich. Daher mussten tausende von DNA-Proben von Huntington-Patienten untersucht werden, um sie zu finden.
In der Zukunft, wenn wir die Auswirkungen besser verstehen, könnte es sein, dass der Gentest fĂŒr RisikotrĂ€ger angepasst wird, sodass nicht nur die LĂ€nge sondern auch die genaue inhaltliche Abfolge des CAG-Arms durch den Bluttest bestimmt wird. ZunĂ€chst einmal aber hat die Forschung den klaren Auftrag, ein besseres VerstĂ€ndnis zu entwickeln. WĂ€hrend es noch nicht ganz klar ist, was dabei heraus kommt, wissen wir auf jeden Fall, dass diese Forschung uns helfen wird, ein besseres VerstĂ€ndnis fĂŒr die Huntington-Krankheit zu entwickeln und damit auch gezielter nach Behandlungsmöglichkeiten zu suchen.
Durch die neuen Erkenntnisse wird definitiv der Wert der Teilnahme so vieler Huntington-Familien an den wissenschaftlichen Studien deutlich. Keine der tausenden von Personen, die ihre DNA zur VerfĂŒgung stellten, wussten, dass solch wichtige Informationen dabei zum Vorschein kommen wĂŒrden. Nur durch die Teilnahme an Studien wie beispielsweise Enroll-HD kann ein Fundament fĂŒr solche wirklich unerwarteten neuen Erkenntnisse gelegt werden.
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