Eine Landkarte der Huntington-Krankheit: Das ganze Gehirn im Blick
Neues Buch für Forscher erzählt 100 Jahre Huntington-Forschung und zeigt, dass die Krankheit das ganze Gehirn trifft.
Von Dr Leora Fox 27. November 2015 Bearbeitet von Dr Jeff Carroll Übersetzt von Christian Schnell Ursprünglich veröffentlicht am 4. November 2015
Viele Wissenschaftler konzentrieren sich auf die Schäden in einem Teil des Gehirns, dem sogenannten Striatum, als Ursache der Symptome der Huntington-Krankheit (HK) - dies ist allerdings nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was die HK alles im Gehirn ändert.
Eine 100-jährige Geschichte der Huntington-Krankheit
Als George Huntington seine erste Beschreibung über eine erbliche Bewegungsstörung im Jahr 1872 veröffentlichte, fasste er alles, was über die Krankheit bekannt war, in einigen wenigen Abschnitten zusammen. Damals führt das zu einer präzisen und rein klinischen Beschreibung, wozu sowohl die Chorea und andere Symptome als auch die Vererbung der Krankheit gehörten. Falls Sie sich jemals gefragt haben, warum die HK nach Huntington benannt wurde - nicht, weil er der erste war, der die Krankheit entdeckt oder beschrieben hat, sondern weil er der erste war, der die Krankheit zum ersten Mal präzise und leidenschaftlich einer breiten medizinischen Öffentlichkeit bekannt gemacht hat.
Fast 150 Jahre später führt die Suche nach dem englischen Begriff “Huntington’s disease” in einer wissenschaftlichen Datenbank zu zehntausenden von Publikationen. Es ist mittlerweile eine enorme Menge an Wissen über das Gehirn bei der HK vorhanden, von der unsichtbaren Maschinerie in unseren Zellen bis zu anatomischen Landkarten des Gehirns, die durch moderne Bildgebungsverfahren erstellt werden konnten. Da sich jeder Arzt oder Forscher aufgrund der Komplexität nur noch mit einem kleinen Ausschnitt der HK beschäftigen kann, ist es wichtig, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf das ganze Bild zu werfen. Diese Art des Zusammenfügens eines Puzzles ist ein ständiger Prozess in der Wissenschaft und ist ungemein wichtig für den Fortschritt beim Beschreiben, Untersuchen und Behandeln einer Krankheit.
Kürzlich haben vier prominente HK-Forscher unter der Leitung von Udo Rüb einen ausführlichen Überblick über die HK-Literatur veröffentlicht, der die Geschichte unseres Wissens über das menschliche HK-Gehirn zusammenfasst - begonnen noch vor George Huntington bis ins Jahr 2015. Ihre Zusammenfassung von mehr als 100 Jahren Forschung über die Anatomie und Pathologie der HK legt nahe, dass die HK weit mehr Teile des Gehirns betrifft als meistens angenommen wird. Diese Perspektive wird verändern, wie Mediziner und Forscher über Symptome und Behandlungen denken.
Was wir bereits lange wissen: Die Basalganglien und die HK
Was wissen wir also über das, was im Verlauf der Huntington-Erkrankung im Gehirn passiert? Sie wissen wahrscheinlich, dass sich die HK am meisten auf eine Gehirnregion namens Basalganglien auswirkt. Die Basalganglien sind eine Gruppe von miteinander verbundenen Hirnregionen, die sich tief im Zentrum des Gehirns befinden und zusammen Bewegungen und Motivation eines Menschen steuern.
„Der Verlust von Zellen im Striatum wird von spezifischen Schäden in anderen Gehirnbereichen begleitet. “
Unter den Regionen, aus denen sich die Basalganglien zusammensetzen, befindet sich das Striatum. Wenn man grob über die Veränderungen im Gehirn durch die HK spricht, spricht man meist über den am häufigsten vorkommenden Zelltypen im Striatum. Diese Zellen werden mittelgroße dornige Neurone genannt und sind aus bisher unerfindlichen Gründen besonders empfindlich, wenn eine Person die Huntington-Mutation in sich trägt.
Lange bevor wir verstanden haben, wie die dornigen Neurone aussehen oder wie sie kommunizieren, haben Anatomen im frühen 20. Jahrhundert festgestellt, dass irgendetwas im Striatum von HK-Patienten nicht richtig ist. Durch post mortem-Vergleich (nach dem Tod) von Gehirnen von HK-Patienten und gesunden Menschen war offensichtlich geworden, dass das Striatum geschrumpft war. Statt einer Art Beule, die diese Struktur normalerweise definiert, sah es eher aus wie ein platter Ballon. Da diese Information auch ohne Hilfsmittel deutlich sichtbar war, rückte das Striatum schnell in den Fokus der HK-Forschung.
Heute wissen wir, dass eine der Hauptaufgaben der dornigen Neuronen im Striatum ist, inhibitorische Signale an Zellen zu senden, die Bewegungen steuern, um sie ruhig zu stellen. Ansonsten würden die sehr aktiven, erregenden Zellen ständig ihre Nachrichten an andere Regionen aussenden, wie zum Beispiel: “Bewege Deine Muskeln jetzt!” Wenn nun viele dornige Neuronen verloren gehen bedeutet dass, dass die erregenden Zellen mehr Signale aussenden können. Dies ist eine Möglichkeit, die Bewegungssymptome bei HK-Patienten zu erklären. Andere Symptome wie Depressionen, Persönlichkeitsveränderungen, Schlafprobleme oder Ängstlichkeit lassen sich dadurch aber nicht wohl nicht erklären.
Was wir seit einiger Zeit wissen: Der zerebrale Kortex bei der HK
Um die sichtbaren Veränderungen im Gehirn von HK-Patienten mit dem klinischen Bild der Patienten zu verbinden, musste all dies sehr sorgfältig dokumentiert werden. Dieses wurde bis in die 1980er Jahre fallweise für jeden Patienten einzeln durchgeführt. Dann führte eine Gruppe von Wissenschaftlern ein System ein, um die post mortem-Schäden der Gehirne von HK-Patienten zu standardisieren und zu klassifizieren. Leitend in dieser Entwicklung war Prof. Jean-Paul Vonsattel, einer der Autoren des neuen Textes. Über die letzten drei Jahrzehnte hat die detaillierte Analyse von hunderten von HK-Gehirnen mit der genau gleichen Skala gezeigt, dass der Verlust von Zellen im Striatum von spezifischen Veränderungen in anderen Teilen des Gehirns begleitet wird.
Eine besonders betroffene Hirnregion ist der zerebrale Kortex. Dieser Teil des Gehirns wird mit “höheren” kognitiven Leistungen wie Denken, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Bewusstsein in Verbindung gebracht. Es ist der am weitesten außen liegende Teil des Gehirns, der direkt unter dem Schädelknochen liegt und den Rest des Gehirns wie einen Helm abdeckt.
Durch die HK verursachte Veränderungen im Kortex können durch das Vonsattel-System und andere anatomische Skalen klassifiziert und durch weitere histologische Untersuchungen bestätigt werden. Zum Beispiel kann man mithilfe von Mikroskopen und statistischen Analysen die Zahl der vorhandenen Zellen in Hirnregionen abschätzen.
Diese Techniken haben gezeigt, dass im Verlaufe der HK das Volumen des zerebralen Kortexes abnimmt und die darin enthaltenen Zellen weniger werden. Da die Zellen des Kortex so wichtig sind für einen gesunden Geist und die Persönlichkeit eines Menschen, könnte ihr Verlust zu vielen der mentalen und emotionalen Symptome führen, wie zum Beispiel Depressionen und Konzentrationsstörungen.
„Erstaunlicherweise bestätigen die heutigen modernen Färbe- und Bildgebungsverfahren die Erkenntnisse, die die Anatomen zur Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert über die Gehirne von Huntington-Patienten gewonnen haben. Zusammengefasst zeigen uns alte und neue Erkenntnisse, dass die HK nicht nur ein Problem des Striatums ist, sondern eine Multi-System Krankheit, die das ganze Gehirn und den gesamten Körper betrifft. “
Was wir erst seit kurzem wissen: Bildgebende Verfahren im lebenden Gehirn
Das Vonsattel-System und andere quantitative anatomische Skalen haben Wissenschaftlern geholfen, den zeitlichen Verlauf der Degeneration bei der HK zu untersuchen. Die Entwicklung ausgefeilter Methoden zur Untersuchung von Geweben hat unser Wissen weiter vertieft und uns geholfen, die pathologischen Veränderungen bei der HK zu visualisieren, wie zum Beispiel die Schädigung von Zellen in bestimmten Hirnschichten oder die Anhäufung des mutierten Huntingtin-Proteins. Auch wenn die post mortem-Untersuchungen des menschlichen Gehirns weiterhin wichtig sind, um die pathologischen Veränderungen eines Gehirns zu verstehen, sind mittlerweile neue Forschungstechnologien zu einem unverzichtbaren Werkzeug geworden.
Dadurch, dass bildgebende Verfahren wie Magnetische Resonanz-Tomographe (MRT) in Medizin und Forschung in den 1990er und 2000er Jahren zur Routine wurde, wurde es viel einfacher, den Verlauf der Krankheit in HK-Patienten zu beobachten, während sie älter wurden und Symptome entwickeln. Auch konnten viel mehr Informationen gewonnen werden. Anhang von Längsschnittstudien (in regelmäßigen Abständen werden die Hirnscans an den gleichen Patienten wiederholt) wurde klar, dass die Schäden im Striatum sehr schnell voranschreiten, während Teile des zerebralen Kortex langsamer degenerieren, genauso wie viele andere Hirnregionen. In den modernen Hirnscans werden einige Schäden im Gehirn bereits sichtbar bevor überhaupt Symptome auftreten. Dies könnte in der Zukunft entscheidend sein, um die HK zu diagnostizieren und festzustellen, wann mit einer Behandlung zu beginnen ist.
MRT und andere bildgebende Verfahren sind die einzige Möglichkeit, wie wir das lebende menschliche Gehirn betrachten können und Veränderungen im Gehirn eines Patienten im zeitlichen Verlauf sehen können. Obwohl bereits die Klassifizierungssysteme und frühe anatomische Beobachtungen Veränderungen im gesamten Gehirn der Huntington-Patienten beschrieben, stand das Striatum und der Kortex so im Fokus der Forschung der vergangenen Jahre, dass der Rest des Gehirns teilweise ignoriert wurde. Ein wichtiges Resultat der Beobachtung des gesamten Gehirns in den letzten 10 Jahren ist, dass Forscher durch die Beweise für weitverbreitete Gehirnschädigungen, sich auch andere Hirnregionen mit weiteren Techniken genauer angeschaut haben, die vorher nicht so genau betrachtet wurden.
Was wir aus neuen Daten wissen: Andere Hirnregionen und die Huntington-Krankheit
In ihrem Übersichtsartikel fokussierten sich Rüb und Kollegen auf drei andere Regionen des Gehirns: den Hirnstamm, den Thalamus und das Kleinhirn. Der Hirnstamm befindet sich an der Schnittstelle zwischen Rückenmark und Gehirn und kontrolliert die unwillkürlichen Aktivitäten wie Atmen und Augenblinzeln. Der Thalamus ist eine Sammlung von Schaltstellen nahe des Zentrums des Gehirns, der Signale von einer Hirnregion zu einer anderen leitet. Man kann ihn sich als große Telefonvermittlung vorstellen, wo die Vermittler darauf warten, einen Anrufer mit seinem Ziel zu verbinden. Das Kleinhirn ist eine große Region am hinteren Ende des Gehirns. Es kontrolliert unwillkürliche Bewegungsmuster, um zum Beispiel das Gleichgewicht zu halten und flüssig zu gehen.
Kürzlich durchgeführte HK-Studien mit einer Vielzahl von Techniken, wie zum Beispiel MRT bis hin zu post mortem-Untersuchungen, wiesen auf Schäden in diesen Hirnregionen hin. Dies könnte eine wichtige Rolle bei den Symptomen spielen, die nicht durch den Verlust des Striatums erklärt werden können, wie zum Beispiel Schluckstörungen (durch den Hirnstamm reguliert), abnormale Augenbewegungen (über den Thalamus verschaltet) oder gestörte Gangmuster und Haltungsprobleme (kontrolliert durch das Kleinhirn).
Was dies für heute bedeutet: Huntington-Forschung und Behandlung
Eine große Theorie über den Verlauf der HK besagt, dass die Krankheit sich von Gehirnregion zu Gehirnregion entlang den anatomischen Verbindungen ausbreitet. Wenn also die Zellen im Striatum anfangen zu sterben, vermitteln sie nicht länger die Signale zwischen dem Thalamus und dem Kortex. Diese Zellen, die nun keine Nachrichten vom Striatum mehr erhalten, werden ebenfalls krank. Man kann sich dies ähnlich wie eine Muskelatrophie vorstellen, wenn der Muskel nicht mehr verwendet wird. Diese Zellen stoppen dann ebenfalls die Kommunikation mit anderen Zellen und auf kurz über lang sind viele miteinander verbundene Hirnregionen betroffen.
Post mortem-Untersuchungen und bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass das Striatum im Verlauf der HK sehr schnell degeneriert, während Kortex, Thalamus, Hirnstamm und das Kleinhirn langsamer verloren gehen. Es bleiben viele Fragen bezüglich der restlichen Teile dieses großen Puzzles offen, wie zum Beispiel warum das Striatum so stark betroffen ist, und warum die Symptome, die nicht den Bewegungsapparat betreffen, zuerst auftreten.
Erstaunlicherweise werden die frühen Erkenntnisse der Anatomen des frühen 20. Jahrhunderts heutzutage durch die modernen Färbe- und Bildgebungsverfahren bestätigt. Insgesamt erzählen uns die alten und neuen Erkenntnisse, dass die HK nicht nur ein Problem des Striatums ist, sondern dass die HK eine Multi-System Krankheit ist, die das ganze Gehirn und den gesamten Körper betrifft. Daher müssen diese auch mit einbezogen werden, um neue Therapien zu entwickeln und zu testen. Das Beschreiben der Krankheit in seiner gesamten Erscheinung machte den Namen George Huntington berüchtigt, aber es ermöglicht den heutigen HK-Forschern das bekannte Wissen zu verarbeiten, während neue Teile des Puzzles verarbeitet werden.