Wie lang ist zu lang? Das Überdenken der Huntington-"Grauzone"
Verursacht eine "mittlere" CAG-Wiederholung im Huntington-Gen Veränderungen im Gehirn?
Von Dr Peter McColgan 2. November 2013 Bearbeitet von Professor Ed Wild Übersetzt von Michaela Winkelmann Ursprünglich veröffentlicht am 19. August 2013
Die genetische Untersuchung der Huntington-Krankheit beinhaltet das Feststellen der Anzahl der CAGs am Anfang des Huntington-Gens. Einige Ergebnisse liegen in einer “Grauzone” – sie sind größer als normal, aber kleiner als der Bereich, der die Huntington-Krankheit verursacht. Jetzt, nach genauem Studieren der Menschen mit CAG-Anzahlen im Zwischenbereich, hat die PHAROS-Studie einige feine Unterschiede in der Stimmung und im Verhalten gefunden. Diese Ergebnisse bedeuten nicht, dass die CAG-Anzahlen im Zwischenbereich die Huntington-Krankheit verursachen, aber sie deuten einige Auswirkungen auf das Gehirn an, die genauer untersucht werden müssen.
CAG-Wiederholungen und die Grauzone
Unsere Gene sind aus DNA gemacht, die wiederum aus den vier chemischen Bausteinen namens A, C, G und T besteht. Diese stehen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Diese Chemikalien bilden die “Buchstaben” unseres genetischen Codes, der als die Anleitung für die Herstellung von Proteinen verwendet wird - die molekularen Maschinen, die all die wichtigen Dinge in unseren Zellen machen.
Das Gen, das die Huntington-Krankheit verursacht, wird als das Huntingtin-Gen bezeichnet. Es hat am Anfang eine interessante Streckung, bei der die Buchstaben CAG mehrmals wiederholt werden. Die Huntington-Krankheit tritt bei Menschen auf, die zu viele dieser CAG-Wiederholungen in dem Gen haben.
Die meisten Huntingtin-Gene haben zwischen 10 und 26 CAG-Wiederholungen und dieser Bereich verursacht niemals die Huntington-Krankheit. Aber Menschen mit 40 oder mehr Wiederholungen im Huntingtin-Gen werden die Huntington-Krankheit zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben entwickeln.
In der Mitte - manchmal auch die Grauzone genannt – sind die Dinge ein bisschen komplizierter. Menschen mit 36 - 39 CAG-Wiederholungen können die Huntington-Krankheit bekommen oder auch nicht - es ist unmöglich, dies sicher zu wissen. Wenn sie sie bekommen, beginnen ihre Symptome in der Regel später im Leben. 36 - 39 wird als “reduzierter Penetranz”-Bereich bezeichnet.
Der Zwischenbereich der CAG-Wiederholungen
Das lässt eine Lücke zwischen 27 und 35 CAG-Wiederholungen, die abzuhandeln ist. Diese nennt man den “Zwischenbereich”, und es ist das, worum es in diesem Artikel geht. So ungefähr 1 % der Menschen der allgemeinen Bevölkerung hat ein Huntingtin-Gen in diesem Zwischenbereich.
Nach unserem derzeitigen Verständnis verursacht eine CAG-Wiederholungslänge im Zwischenbereich nicht die Huntington-Krankheit oder irgendwelche ihrer Symptome.
Augenblick! Wenn der Zwischenbereich nicht zur Huntington-Krankheit führt, wieso ist er dann anders als der normale Bereich? Der Unterschied liegt darin, was passieren kann, wenn Gene des Zwischenbereiches von den Eltern an das Kind weitervererbt werden. Wenn dies geschieht, gibt es ein erhöhtes Risiko, dass ein Gen des Zwischenbereiches verlängert wird, um so eine höhere Anzahl an CAGs zu haben, die dann die Huntington-Krankheit verursachen könnte. Das genaue Risiko, dass dies passiert, ist sehr gering, und in den meisten Fällen der Menschen mit Genen im “Zwischenbereich” haben die Kinder keine krankheitsverursachenden Gene.
Aber selbst wenn das passiert, wird die Person mit der CAG-Anzahl im Zwischenbereich selbst die Huntington-Krankheit nie bekommen.
Lassen Sie uns zusammenfassen
Also… 26 oder weniger CAG-Wiederholungen sind normal, während 40 oder mehr die Huntington-Krankheit verursachen. 36 - 39 CAG-Wiederholungen könnten im späteren Leben zur Huntington-Krankheit führen. Und der mittlere Bereich, zwischen 27 und 35 wird nicht dazu führen, die Huntington-Krankheit zu bekommen, aber es gibt ein kleines Risiko der Übertragung eines längeren, möglicherweise schädlichen Huntingtin-Gens an die Kinder.
Das ist zumindest unser gegenwärtiges Verständnis der Situation.
Eine etwas extreme Art es zu erklären wäre: “Menschen mit mittlerer CAG-Wiederholungslänge haben im Gehirn keine Unterschiede gegenüber Menschen mit normal-langem Gen”.
„Bedeuten diese feinen Veränderungen ein sehr frühes Stadium der Huntington-Krankheit? Das ist eine sehr kühne Behauptung und keine, die im Moment weder so noch so bewiesen werden kann. “
Doch Forscher sind ein neugieriger Haufen und fragen sich natürlich, ob diese einfache Aussage wirklich wahr ist. Schließlich, wenn viel schlecht ist, ist es dann nicht möglich, dass eine mittlere Anzahl ein bisschen schlecht ist?
Die PHAROS-Studie
Die PHAROS-Studie steht für „Prospective Huntington’s at Risk Observational Study“. Sie umfasst 43 medizinische Zentren in ganz Amerika und 1.001 Personen.
Diejenigen, die an der Studie teilnahmen, haben ein Elternteil, einen Bruder oder eine Schwester mit der Huntington-Krankheit, aber hatten bis zur Teilnahme an der Studie selbst keinen Huntington-Gentest. PHAROS hat alle Teilnehmer getestet, aber die Untersuchungsergebnisse wurden weder ihnen noch dem Studienpersonal offengelegt - die Ergebnisse wurden geheim gehalten und nur für Forschungszwecke verwendet. Natürlich hatten die Teilnehmer ihre Zustimmung für diese „verblendete“ Untersuchung gegeben.
Jeder PHAROS-Teilnehmer wurde von einem Neurologen alle 9 Monate über 4 Jahre hinweg untersucht. Diese Untersuchungen beinhalteten auch eine Anzahl von Bewegungs-, Gedächtnis- und Verhaltenstests; alles das, was bei der Huntington-Krankheit betroffen sein kann.
Die meisten Menschen in PHAROS hatten CAG-Wiederholungswerte, die eindeutig normal (26 oder weniger) oder erweitert (36 oder mehr) waren. Aber fünfzig der Teilnehmer hatten CAG-Werte im Zwischenbereich.
In einer soeben in der Fachzeitschrift „Neurology“ erschienenen Veröffentlichung haben die PHAROS-Forscher berichtet, was sie bei diesen fünfzig Menschen mit Genen im Zwischenbereich gefunden haben.
Wie erwartet sah die “Zwischenbereichs”-Gruppe bei den Messungen der Bewegung, des Denkens und der Alltags-Arbeit so aus wie die mit den „normalen“ CAG-Wiederholungswerten. Das stimmt überein mit der aktuellen Denkweise, dass die CAG-Wiederholungen im Zwischenbereich keine Symptome der Huntington-Krankheit verursachen.
Feine Unterschiede?
Jedoch bei einer Reihe von Tests fand das PHAROS-Team einige unerwartete Unterschiede. Dies waren die “Verhaltens“-Messungen, die Fragen über Dinge wie die Stimmung, die Motivation, die Reizbarkeit, die Aggressivität und die Suizidgedanken stellen. Dies sind Bereiche der Funktionsweise des Gehirns, die häufig bei der Huntington-Krankheit gestört werden.
Die Verhaltens-Messungen bei PHAROS ergaben, dass die Menschen mit einer mittleren Anzahl der CAG-Wiederholungen ein geringeres Motivationsniveau hatten, und sie berichteten von mehr Selbstmordgedanken als bei denjenigen mit einer normalen Anzahl der CAG-Wiederholungen. Andere Verhaltensaspekte waren nicht signifikant verändert, und über einen Zeitraum von 4 Jahren gab es keine Verschlechterung dieser Symptome.
Diese Unterschiede wurden durch den Vergleich von jedem mit einer CAG-Länge im Zwischenbereich gegenüber jedem mit normaler CAG-Länge gefunden. Innerhalb beider Gruppen gab es eine Menge von Abweichungen.
In dem Neurology-Artikel empfehlen die PHAROS-Forscher, dass diese feinen, veränderten Verhaltensweisen bedeuten könnten, dass die Gehirne von Menschen mit mittlerer CAG-Anzahl einige Gemeinsamkeiten mit den Gehirnen von Menschen mit einem vollständig verlängerten Huntingtin-Gen haben. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Verhaltensunterschiede sogar sehr frühe Symptome der Huntington-Krankheit repräsentieren könnten.
Was bedeutet das?
Die Feststellung, dass die geringe Motivation und die erhöhten Suizidgedanken bei Menschen mit einem CAG-Wert im Zwischenbereich häufiger sind - auch wenn diese Menschen ihre Testergebnisse nicht wissen - ist sicherlich eine interessante Geschichte, denn es deutet darauf hin, dass die etwas längeren als die normal-langen Gene feine Veränderungen in der Funktionsweise des Gehirns verursachen könnten. Und wenn eine dieser Veränderungen die Selbstmordgedanken erhöht, dann werden die Menschen mit Genen im Zwischenbereich möglicherweise stärker unterstützt werden müssen als die Menschen, deren Huntington-Testergebnis eindeutig negativ ist.
Aber bedeuten diese feinen Veränderungen ein sehr frühes Stadium der Huntington-Krankheit? Das ist eine sehr kühne Behauptung und keine, die im Moment weder so noch so bewiesen werden kann.
Wenn CAG-Wiederholungen im Zwischenbereich die Huntington-Krankheit verursachen könnten, würden wir erwarten, dass die Menschen mit einem CAG-Wert am oberen Ende des mittleren Bereiches mehr Verhaltensauffälligkeiten zeigen würden, aber das wurde in der PHAROS-Studie nicht gefunden.
Andere mögliche Erklärungen
Eine andere zu bedenkende Sache ist, dass manchmal interessante Ergebnisse wie diese zufällig auftreten können. Wenn man eine Münze zehnmal wirft, erhält man möglicherweise fünf- oder sechsmal hintereinander Kopf, aber das bedeutet nicht, dass die Münze abnormal ist. Es ist das gleiche bei der Wissenschaft - je mehr Dinge man misst, desto höher ist die Chance, dass man etwas findet, das abnormal erscheint. In der PHAROS-Studie untersuchten die Wissenschaftler elf verschiedene Verhaltensaspekte sowie viele Tests der Bewegung, des Denkens und Arbeitens, haben aber “statistisch signifikante” Unterschiede nur bei zwei verhaltensorientierten Messungen bei den Menschen mit CAG-Werten im Zwischenbereich gefunden. Es ist möglich, dass diese beiden Unterschiede durch Zufall entstanden sind. Es ist sicherlich schwer zu erklären, wie Menschen mit einem Gen im Zwischenbereich erhöhte Selbstmordgedanken haben, aber keine deutlich niedrigeren Stimmungswerte als die Menschen mit dem normal-langen Gen.
Das letzte woran wir uns erinnern sollten ist, dass sich dieser Bericht mit einer kleinen Anzahl von Personen mit CAG-Längen im Zwischenbereich befasst, unter einer insgesamt großen Gruppe. Das macht es möglich, dass ein oder zwei Personen mit ernsthaften Problemen möglicherweise die Ergebnisse der gesamten Gruppe verzerren, auch wenn ihre Probleme nicht mit einem CAG-Wert im Zwischenbereich zusammenhängen.
Kann diese Forschung praktisch helfen?
Derzeit haben die Menschen, die ein CAG im Zwischenbereich haben, keine Risiko, die Huntington-Krankheit zu entwickeln und erhalten in der Regel keine laufende medizinische Versorgung. Das ist noch immer unser Verständnis, aber neue Ergebnisse werfen die Möglichkeit auf, dass sie anfällig sind für diese feinen Verhaltensstörungen.
Angesichts ihrer Befunde schlagen die Forscher vor, die in dieser Studie beteiligt sind, dass Menschen mit einer mittleren CAG-Wiederholungsanzahl eine engere Überwachung und Behandlung erhalten sollten, wenn sie diese Symptome entwickeln. Das scheint ein vernünftiger Rat zu sein. In der Zwischenzeit wird die laufende Forschung am gesamten Spektrum der CAG-Längen uns dabei helfen herauszufinden, ob die Probleme, die hier aufgezeigt wurden, wirklich von der CAG-Wiederholungsanzahl im Zwischenbereich verursacht wurden.