Wenn eine kurze Zündschnur zu einem Gewitter wird: Reizbarkeit bei der Huntington-Krankheit verstehen

Wir alle haben Tage, an denen wir uns gereizt fühlen, z. B. wenn Sie im Stau stehen oder sich jemand im Supermarkt vordrängelt. Aber für Menschen, die mit der Huntington-Krankheit (HK) leben, ist Reizbarkeit nicht nur eine vorübergehende Stimmung. Sie kann sich wie ein Gewitter anfühlen, das plötzlich und oft ohne Vorwarnung aufzieht und nicht nur die Person mit der Huntington-Krankheit betrifft, sondern auch alle um sie herum.

In einer aktuellen Studie haben Dr. Sarah Gunn und ihr Forscherteam aus Leicester, Großbritannien, untersucht, wie sich Reizbarkeit für Menschen mit der Huntington-Krankheit und ihre Familien wirklich anfühlt. Durch die direkte Anhörung von Menschen mit Huntington-Krankheit zeichneten die Forscher ein klareres, ehrlicheres Bild der Reizbarkeit von Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind. Diese Studie hat gezeigt, dass Reizbarkeit viel mehr ist als nur eine Stimmung. Sie ist ein echtes und schwieriges Problem, das die emotionale Regulierung, Beziehungen und das allgemeine Wohlbefinden beeinträchtigt.

Es ist wie ein Vulkan

Ein häufiges, aber weniger bekanntes Symptom der HK ist die Reizbarkeit. Reizbarkeit kann für die Person mit HK, die diese intensiven Emotionen erlebt, sehr belastend sein. Sie kann aber auch eine erhebliche emotionale Belastung für Familie und Freunde darstellen, so dass sich alle Beteiligten frustriert, isoliert und unverstanden fühlen.

Stellen Sie sich vor, Sie halten eine Flasche mit kohlensäurehaltigem Getränk (Limonade) in der Hand, die geschüttelt wurde. Sie versuchen, sie geschlossen zu halten, aber schließlich baut sich der Druck auf und sie explodiert. Dieses Bild hilft uns zu verstehen, wie sich Reizbarkeit für Menschen mit der HK anfühlt: plötzlich, intensiv und schwer zu kontrollieren. Es ist wie ein Vulkan, der unter der Oberfläche brodelt, der in einem Moment ruhig ist und dann plötzlich wegen etwas ausbricht, das anderen vielleicht klein oder unbedeutend erscheint. Es ist nicht so, dass Menschen mit der HK um sich schlagen wollen. Sie fühlen sich vielleicht hilflos, weil sie merken, dass ihre Gereiztheit zunimmt, aber ihre Reaktionen nicht kontrollieren können.

Im Inneren des Sturms

Anstatt sich auf medizinische Tests oder Zahlen zu verlassen, wollten Dr. Gunn und ihr Team die Reizbarkeit aus der Perspektive derjenigen verstehen, die mit der HK leben. Sie untersuchten die Reizbarkeit bei Menschen mit prämanifester und manifester HK. „Prä-manifeste“ HK bezieht sich auf Menschen, die positiv auf das Gen getestet wurden, das die HK verursacht (CAG-Wert 40 oder mehr), aber noch keine erkennbaren Symptome aufweisen (entspricht dem HD Integrated Staging System (HD-ISS) Stadium 0). Die „manifeste“ HK hingegen bezieht sich auf Personen, die positiv auf das HK-Gen getestet wurden und erkennbare Symptome der HK aufweisen (HD-ISS Stadium 1 und darüber hinaus). In dieser Studie hatten 42 % der Personen eine prämanifeste HK, während 58 % eine manifeste HK hatten.

Die Forscher führten Interviews durch, in denen sie Menschen mit HK die Möglichkeit gaben, ihre Erfahrungen in ihren eigenen Worten zu schildern. In den Gesprächen ging es darum, wie Menschen mit HK das Wort „Reizbarkeit“ empfanden, wie sie sie erlebten, was sie auslöste, wie sie damit umgingen und wie sie ihre Beziehungen beeinflussten.

Sobald die Interviews abgeschlossen waren, werteten die Forscher die Interviews sorgfältig aus und konzentrierten sich dabei auf Reizbarkeit und deren Auswirkungen auf Menschen mit der HK. Sie identifizierten drei Hauptthemen (Kategorien) , die immer wieder auftauchten:

1. Die Auslöser
2. Die Herausforderungen
3. Den Kampf besänftigen

Die Auslöser

Dr. Gunn und ihr Forscherteam haben in der Kategorie „Auslöser“ gemeinsame Gedanken verschiedener Teilnehmer mit der HK festgehalten. Ein wichtiger Gedanke war: „Es liegt nicht an mir, sondern an der HK“. Die Teilnehmer hatten komplizierte Gefühle in Bezug auf das Wort „Reizbarkeit“. Einige Teilnehmer fühlten sich unwohl dabei, sich mit Reizbarkeit zu identifizieren, da es negativ besetzt sein kann, während andere der Meinung waren, dass es ihre Erfahrungen mit der HK genau beschreibt.

Viele Teilnehmer erklärten, dass der Stress des Lebens mit der HK sie reizbarer machte. Die Sorgen um ihre Zukunft und die Sorge um ihre Familienmitglieder verstärkten die Belastung, so dass es schwieriger wurde, ruhig zu bleiben, und die Gefahr, andere anzuschnauzen, stieg.

Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren oder überwältigt zu sein, könnte bei Menschen mit der Huntington-Krankheit zu erhöhter Reizbarkeit beitragen. Die Teilnehmer sagten, dass Lebensereignisse wie Trauer, frühere Traumata oder hektische, chaotische Umgebungen es schwieriger machen, Emotionen zu kontrollieren. Interessanterweise sprachen alle Teilnehmer darüber, dass grundlegende körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Müdigkeit, Schmerzen oder zu große Hitze oder Kälte ihre Reizbarkeit schnell über die Grenze treiben können. Es ist ein bisschen so, wie wenn man sich ungeduldiger oder verärgerter fühlt, wenn man Hunger oder Schmerzen hat.

Die Herausforderungen

Die Teilnehmer bemerkten, dass selbst kleine Ärgernisse, wie eine zuschlagende Tür, während man versucht zu sprechen, schnell in heftige Wut ausarten können. Diese Gefühle können sich hartnäckig halten und machen es schwer, ruhig zu bleiben oder klar zu denken. Das kann dazu führen, dass man ausrastet oder verletzende Dinge sagt. Einige fühlten sich diesen Gefühlen gegenüber machtlos, was sie ängstlich und besorgt über ihre eigenen Ausbrüche und die Auswirkungen auf ihre Mitmenschen machte.

Reizbarkeit bei der Huntington-Krankheit kann zu Missverständnissen führen, insbesondere bei Angehörigen, die sich verletzt oder distanziert fühlen, so das Ergebnis dieser Studie. Einige Menschen mit HK versuchten, schwierige Gefühle bei der Arbeit oder vor neuen Freunden zu verbergen, aber das führte oft dazu, dass sie zu Hause noch frustrierter waren. Viele Menschen mit HK berichteten, dass sie Treffen mit Freunden absagten und mehr Zeit allein verbrachten, um sich und andere zu schützen.

Den Kampf besänftigen

In den Interviews erzählten die Teilnehmer von verschiedenen Methoden, mit denen sie ihre Gereiztheit nicht hochkochen lassen. Pausen einzulegen, sich abzulenken oder sich auf unterstützende Freunde und Fachleute zu stützen, waren gängige Strategien. Einige Teilnehmer gaben auch an, dass Medikamente und kleine Änderungen in der Lebensweise, wie das Vermeiden von Stressfaktoren, ihnen halfen, ruhig zu bleiben und ihre Ruhe zu bewahren.

Ein Aufruf für Mitgefühl

Studien wie diese dokumentieren in der wissenschaftlichen Literatur, was viele Menschen aus HK-Familien bereits wissen. Diese Art von Forschung ist von entscheidender Bedeutung, damit Patientenorganisationen, Kliniker und andere Interessenvertreter der Huntington-Krankheit sich für Ressourcen, Unterstützungsdienste und Behandlungsstrategien einsetzen können, die das gesamte Spektrum der Huntington-Symptome abdecken. Bei der Huntington-Krankheit geht es nicht nur um Bewegungsprobleme, sondern auch um emotionale, kognitive und verhaltensbezogene Herausforderungen, die die Lebensqualität stark beeinträchtigen können. Die Anerkennung und Validierung dieser Symptome durch die Forschung stellt sicher, dass sie in den Behandlungsplänen oder bei der Entwicklung von Medikamenten nicht übersehen werden.

Wenn Sie mit einer Huntington-Krankheit leben oder jemanden betreuen, der diese Krankheit hat, sollten Sie wissen, dass Sie nicht allein sind. Reizbarkeit ist kein Zeichen von Schwäche oder schlechtem Charakter. Sie ist ein echter und schmerzhafter Teil der HK. Mit Verständnis, Geduld und den richtigen Strategien lässt sie sich in den Griff bekommen.

Genauso wie Sie jemandem, der einen Rollstuhl benutzt, Platz machen oder jemandem mit einem gebrochenen Bein helfen würden, brauchen Menschen mit der HK Mitgefühl für die Herausforderungen, die Sie nicht immer sehen können, wie zum Beispiel Reizbarkeit. Lassen Sie uns hinter die Oberfläche schauen und den Sturm als das erkennen, was er ist. Reizbarkeit ist ein Symptom, nicht die ganze Person.

TL;DR

• Reizbarkeit bei der HK ist mehr als nur schlechte Laune. Sie ist ein echtes, beunruhigendes Symptom, das sich wie ein plötzlicher Sturm anfühlen kann und sowohl die Person mit der HK als auch die Menschen in ihrem Umfeld betrifft.
• Eine in Großbritannien durchgeführte Studie unter der Leitung von Dr. Sarah Gunn untersuchte, wie Menschen mit der Huntington-Krankheit ihre Reizbarkeit erleben und damit umgehen. Anhand von Interviews identifizierten die Forscher die wichtigsten Auslöser (wie Stress, Müdigkeit oder chaotische Umgebungen), emotionale und soziale Herausforderungen und Bewältigungsstrategien (wie Pausen oder Unterstützung).
• Die Studie unterstreicht, dass Reizbarkeit ein berechtigter, oft unsichtbarer Teil der HK ist, der Verständnis, Mitgefühl und gezielte Unterstützung bei der Pflege und Behandlung verdient.

Mehr erfahren

Original-Forschungsartikel, „It’s more than just irritability’: perspectives and experiences of irritability among people affected by Huntington’s disease“ (frei zugänglich).